Die Polyvagal-Theorie im Zusammenleben mit Hunden

Das vegetative bzw. autonome Nervensystem (ANS) hat seine Bezeichnungen daher, dass es vor allem für die Regulation der inneren Organe zuständig ist und ohne Beteiligung des Bewusstseins arbeitet. Zwar existieren auch übergeordnete Strukturen im zentralen Nervensystem, aber beispielsweise Verdauung, Herzschlag und Atmung arbeiten auch dann, wenn unser Bewusstsein mit anderen Dingen beschäftigt ist.
 

 

Ein neues Verständnis des Autonomen Nervensystems

Bisher wurde das ANS als zweigeteilt verstanden. Der Sympathikus, repräsentiert durch den entlang der Brustwirbelsäule verlaufenden „Grenzstrang“, wurde als mobilisierend interpretiert. Der Parasympathikus, repräsentiert durch den Nervus Vagus, wurde als beruhigend und für Verdauung und Reproduktion zuständig verstanden.

 

In den frühen 1990er Jahren begann der Neurophysiologe Stephen Porges, diese Einteilung in Frage zu stellen. In der Folge entwickelte er die von ihm benannte Polyvagal Theorie, der zufolge das ANS nicht zwei, sondern drei Anteile hat. Die Interpretation des Sympathikus als „Flight and Fight“ System blieb weitgehend unverändert, der Parasympathikus jedoch besteht nach Porges aus zwei Anteilen: einem dorsalen und einem ventralen Anteil.

 

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich die verschiedenen Anteile des ANS nicht nur stammesgeschichtlich, sondern auch in der Individualentwicklung zu unterschiedlichen Zeitpunkten entwickeln bzw. entwickelt haben. Das älteste System ist der dorsale Vagus, dessen Reaktionsmuster mit reduzierter Aktivität bis hin zum „Freeze“ einhergeht. Etwas jünger ist der Sympathikus, dessen Reaktionsmuster die „Flight and Fight“ Reaktion ist. Das jüngste System, das im Gegensatz zu den anderen beiden nur bei Säugetieren existiert und das sich bei Ungeborenen erst im letzten Trimester der Schwangerschaft und im ersten Lebensjahr entwickelt, ist der ventrale Vagus. Sein Reaktionsmuster entspricht dem der sozialen Zuwendung, wodurch er ein Gefühl von Sicherheit und Verbundenheit hervorbringt.

 

In den vergangenen Jahren hat es ein ganze Reihe von sehr lesenswerten Veröffentlichungen gegeben, die die Polyvagal Theorie in der Therapie von Menschen mit Traumafolgestörungen, Autismus, Depressionen und Ängsten sowie einer ganzen Reihe somatischer und psychosomatischer Störungen angewandt haben. Aber erst jetzt entsteht der Eindruck, dass das Konzept im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit ankommt. Es auch unter Hundemenschen bekannter zu machen und zu erläutern, wie uns die Theorie im Leben mit unseren Hunden helfen kann, ist Anliegen dieses Artikels.

 

Hierarchie und Neurozeption

Porges zufolge wird die Funktion der autonomen Systeme durch drei Organisationsprinzipien bestimmt: Hierarchie, Neurozeption und Co-Regulation. Hierarchie bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Aktivierung der drei Systeme in absteigender Reihenfolge erfolgt. Das jeweils primitivere System wird nur dann aktiviert, wenn die höher entwickelten Funktionen versagen. Dadurch bestimmt der jeweilige, physiologische Zustand die Bandbreite des zur Verfügung stehenden Verhaltensrepertoires und damit auch die Erfahrungen, die der Organismus macht.

 

Unter dem etwas sperrigen Begriff der Neurozeption versteht Porges ein Erkennen unterhalb der Schwelle des Bewusstseins. Das autonome Nervensystem registriert und analysiert Reize 24/7. Es tut dies nach innen, nach außen und im Kontakt mit anderen Lebewesen. Ohne, dass wir uns der auslösenden Reize bewusst sind, werden Entscheidungsfindung und Verhalten dahingehend beeinflusst, uns an Sicherheit, Gefahr oder Lebensbedrohung anzupassen. So können vegetative Symptome wie eine Erhöhung des Herzschlags oder Zittern auftreten, ohne dass ein Auslöser erkennbar ist. Diese Auslöser sind jedoch vorhanden – im Inneren des Organismus, im äußeren Umfeld oder als Teil einer Interaktion mit anderen Lebewesen.

 

 

Co-Regulation

Co-Regulation, das dritte Organisationsprinzip der Polyvagal Theorie, bezeichnet die wechselseitige, vegetative Beeinflussung von sozial lebenden Tieren untereinander. Die Möglichkeit, komplexe Sozialverbände zu bilden, setzt die Fähigkeit zur Selbstregulation voraus. Selbstregulation entsteht Porges zufolge jedoch aus der Erfahrung der Co-Regulation. So erklären sich beispielsweise auch emotionale Entwicklungsdefizite bei Kindern, die keine oder nur unzuverlässige, regulierende Fürsorge seitens ihrer Bezugspersonen erfahren haben. Co-Regulation lässt sich ganz direkt in der Gegenwart ausgeglichener und mitfühlender Menschen erfahren. Sie müssen nichts sagen oder tun, um eine aufgeregte Person in die Selbstregulation zurückzuführen. Sie müssen einfach nur da sein, den Rest erledigt ihr autonomes Nervensystem.

 

Dein Nervenkostüm ist kein Schicksal

Unser normaler Alltag ist ein ständiger Wechsel zwischen den drei Zuständen, die zudem nur in Extremfällen in Reinform auftreten. Und auch der Wechsel zwischen den drei Anteilen des ANS ist nicht im Sinne des „Alles oder Nichts“  Prinzips zu verstehen. Die Übergänge sind fließend. Probleme tauchen erst dann auf, wenn ein Organismus dauerhaft in eine Dysregulation gerät und Fixierungen entstehen. Hieraus ergeben sich unbewusste Muster, die oftmals nicht mehr der aktuellen Lebensrealität entsprechen.

 

Wenn beispielsweise trotz des ehrlichen Bemühens um Veränderung immer wieder dieselben Probleme oder Beziehungsmuster im Leben einer Person auftreten, dann hat das häufig mit unbewusst fixierten Mustern zu tun. Posttraumatische Belastungsstörungen sind ein anderes Beispiel für Fixierungen.

 

Die gute Nachricht ist, dass diese Muster kein Schicksal sind. Im Gegensatz zu Entspannungstechniken wie der Progressiven Muskelentspannung oder dem Autogenen Training, die nur den aktuellen Anspannungszustand reduzieren, will die Anwendung der Polyvagal Theorie in der Praxis ein fixiert dysreguliertes Nervensystem wieder in die autonome Flexibilität zurückführen.

 

Deb Dana hat hierzu in ihrem Buch „Polyvagal Exercises for Safety. 50 Client Centered Practices“ einen reichen Fundus an sehr einfachen und pragmatischen Übungen zusammengetragen. Es geht dabei darum, die unterschiedlichen Zustände am eigenen Körper zu spüren, Muster zu erkennen und sie durch kreative Übungen nach und nach aufzulösen.

 

 

Co-Regulation zwischen Hund und Mensch ?

Wie nun können wir die Erkenntnisse der Polyvagal Theorie auf unser Zusammenleben mit Hunden anwenden?

 

Co-Regulation ist etwas, das zwischen den Mitgliedern eines Sozialverbandes entsteht. Üblicherweise sind dies Sozialpartner*innen derselben Art. Nun hat der Prozess der Domestizierung des Wolfes zum Hund ein Wesen hervorgebracht, das in der Lage ist, enge, soziale Beziehungen auch zu Wesen außerhalb seiner eigenen Art einzugehen. Hunde leben heute, zumindest in unseren Breiten, als Familienmitglieder. Wir interagieren täglich emotional und sozial mit ihnen. Dies geschieht gemäß der Polyvagal Theorie nicht nur auf bewusster, sondern auch auf unbewusst-physiologischer Ebene. Hund und Mensch befinden sich daher in beständiger, wechselseitiger Co-Regulation, die jedoch wie in der menschlichen Interaktion in beide Richtung entlang der Hierarchie ablaufen kann. Wenn Menschen davon sprechen, dass ihr Hund sie spiegelt, könnte die physiologische Grundlage dieser Wahrnehmung im Phänomen der Co-Regulation zu suchen sein.

 

Um die gemeinsame Dynamik zwischen Hund und Mensch in Richtung eines ventralen Zustandes zu verschieben oder dort zu stabilisieren, muss sich ein Ende der Leine des eigenen, vegetativen Zustands bewusst werden. Hierzu ist nur der menschliche Part des Teams fähig. Daher ist der Satz meiner sehr geschätzten Kollegin Tina Schwarz „Jede Veränderung Deines Hundes beginnt bei Dir“ schlicht wahr. Und er verdeutlicht einmal mehr die Bedeutsamkeit des Trainings in Achtsamkeit und Mitgefühl parallel zu jeder Form des Hundetrainings.

 

Im Übrigen findet hier auch das intuitive Verständnis des eigenen Hundes, das Bauchgefühl, zumindest zum Teil seine körperliche Entsprechung. Denn neben Beobachtung der hundlichen Körpersprache und Erfahrung erleben wir alle immer wieder ein intuitives Wissen darum, was der Hund kommuniziert, ohne dass eindeutige Signale existierten. Und schließlich könnte auch die eher im esoterischen Feld angesiedelte Praxis der Tierkommunikation, die eine Art telepathischer Verbindung mit Tieren postuliert, ein ganz und gar bodenständiges Verstehen der unbewussten, vegetativen Signale des hundlichen Gegenübers sein.

 

Lara – die Polyvagal Theorie live erleben

Lara (Name geändert) ist eine Hündin, die ihre ersten Lebensjahre in einem Shelter in Osteuropa verbracht hat. Vor circa sechs Wochen ist sie in ihrem neuen Zuhause bei einer Familie in Deutschland angekommen und ich habe das Glück, Menschen und Hund auf ihrem Weg in ein gemeinsames Leben begleiten zu dürfen.

 

Die ersten beiden Wochen verbrachte Lara fast ausschließlich in ihrem Körbchen in einer ruhigen Ecke des Hauses. Sie bewegte sich nicht im Haus, stieg Treppen weder hinauf noch hinunter und zum Lösen musste sie nach draußen in den Garten getragen werden. Beim Tragen verlor sie jegliche Körperspannung und ergab sich völlig in die Situation. Im Garten verzog sich sofort in eine Ecke, von der aus sie den ganzen Garten überblicken konnte und rührte sich nicht von der Stelle, bis sie wieder hineingetragen wurde. Sie vermied Blickkontakt, fror ein, wenn sich einer der anderen Hunde ihr näherte, aß kaum etwas und trank nur wenig.

 

Lara kam im Zustand eines dorsal-parasympathischen Shutdowns bei ihrer neuen Familie an, vermutlich ausgelöst durch die traumatisierende Erfahrung der Transportbedingungen. Wobei die Jahre im Shelter und ihr ohnehin eher sensibles Wesen hierfür sicherlich den Boden bereitet haben.

 

Im Laufe der Wochen habe ich die Familie mehrfach besucht und erhielt auch immer wieder Videos von Lara. Was ich sah, ließ mein Herz vor Freude hüpfen und trieb mir auch immer wieder die Tränen in die Augen. Ich sah eine Hündin, die sich in winzig kleinen Schritten aus ihrer Erstarrung zu lösen begann. Durch die Brille der Polyvagal Theorie sah ich, wie sie entdeckte, dass sie die Wahl hatte, sich im Sinne einer sympathisch vermittelten Fluchtreaktion einem Reiz zu entziehen, anstatt sich ihm einfach zu ergeben. Ich sah aber auch die ersten vorsichtigen Schritte in Richtung ventral-vagaler Aktivierung: sie begann Blickkontakt mit ihren Menschen aufzunehmen und an einer hingehaltenen Hand zu schnuppern. Gegenüber den anderen Hunden ging die Öffnung sogar noch deutlich schneller vonstatten, sodass sie ihnen gegenüber bereits Spielaufforderungen zeigt.

 

Laras Entwicklung ist nicht abgeschlossen und ich begleite die Familie weiterhin. Ihre Menschen haben verstanden, dass Lara nur lernen kann, dass sie es gut mit ihr meinen, wenn sie ihrem Autonomen Nervensystem Zeit lassen, sich zu regenerieren. Nur dann wird die Hündin in der Lage sein, ihr Verhaltensrepertoire zu erweitern. Ich bin sehr glücklich, dass Lara es so gut getroffen hat.

 

Literaturempfehlungen

 

  • Deb Dana: Polyvagal Exercises for Safety. 50 Client Centered Practices.
  • Deb Dana: Befriending Your Nervous System
  • Stephen Porges: Die Polyvagal-Theorie: Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Emotionen, Bindung, Kommunikation & ihre Entstehung
  • Stanley Rosenberg: Der Selbstheilungsnerv




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